Berufliche Vorsorge: Stösst die Logik an ihre Grenzen?

11.6.2020 Schweizer Unternehmen betrachten ältere Arbeitskräfte im internationalen Vergleich überdurchschnittlich häufig als «Wettbewerbsnachteil». Ältere Arbeitskräfte gelten als «schlechte Risiken».

Sozialversicherungen schützen gegen soziale Risiken wie Alter, Tod und Invalidität, aber nicht gegen regulatorische Risiken. Zu diesen politisch zu verantwortenden Risiken zählt der überhöhte Umwandlungssatz in der zweiten Säule. Er macht Pensionierungen in der obligatorischen beruflichen Vorsorge zum Verlustgeschäft, da das angesparte Altersguthaben nicht ausreicht, um die künftigen Rentenzahlungen zu finanzieren (Pensionierungsverluste). Die gesetzlich garantierte Rente ist angesichts der gestiegenen Lebenserwartung und des derzeitigen Zinsumfeldes zu hoch. Die Anschlussfrage lautet: Wer übernimmt die Verluste?

Trend zur Individualisierung

Assekuranz und Pensionskassen reichen die heisse Kartoffel zunehmend weiter. In der beruflichen Vorsorge ist ein Trend zur Individualisierung mit kosten- und risikogerechter Tarifierung zu beobachten. Auch werden Pensionskassen selektiv bei der Aufnahme neuer Firmen. Das ist in der Logik der zweiten Säule gut nachvollziehbar. Die Schattenseite ist, dass ältere Kollektive benachteiligt werden: Die Alters- und Risikostruktur einer Firma schlägt sich immer stärker auf die betrieblichen Sozialkosten nieder.

Wohl mag die Erhöhung der Sozialkosten für die Betriebe nicht immer gleich spürbar sein. Das hängt davon ab, ob und wie die Kosten in der Firma abgebildet und gedeckt werden. So führt etwa ein internationaler Rechnungslegungsstandard (IFRS, IAS 19) dazu, dass die Pensionierungsverluste in den Bilanzen der Unternehmen auftauchen, was den Druck seitens der CFO erhöhen kann. Eher verschleiert werden die Kosten dagegen, wenn Reserven angezapft, Risikobeiträge zur Querfinanzierung eingesetzt oder beispielsweise überobligatorische Umwandlungssätze gesenkt werden. Diesbezüglich dürfte die Transparenz steigen, wenn die geplante Prämie für Pensionierungsverluste («Rentenumwandlungsgarantieprämie») eingeführt wird. Die Pensionierungsverluste erhalten damit ein Preisschild.

Schweizer Unternehmen betrachten ältere Arbeitskräfte im internationalen Vergleich überdurchschnittlich häufig als «Wettbewerbsnachteil». Die zweite Säule läuft Gefahr, diese Haltung zu verstärken, wenn sie ältere Arbeitskräfte zu «schlechten Risiken» macht und ihre Kosten zunehmend ins Bewusstsein der Arbeitgeber rückt. Ob sich die damit gesetzten Anreize zur Exklusion älterer Arbeitskräfte tatsächlich verwirklichen, steht auf einem anderen Blatt. Arbeitsrechtliche Schranken bestehen allerdings wenige. Die Schweiz verfügt im Gegensatz zu beinahe allen anderen OECD-Ländern über keine Gesetzgebung gegen betriebliche Altersdiskriminierung.

Teufel und Beelzebub

Die Pointe: Das politisch zu verantwortende Risiko der Pensionierungsverluste senkt die Anreize zur Beschäftigung älterer Arbeitskräfte. Das zeigt sich gerade bei Betrieben mit tiefen Löhnen, wo die Kosten nicht verschleiert werden können. Was ist die Lösung? Naheliegend wäre es, den überhöhten Umwandlungssatz zu senken und damit Pensionierungen nicht weiter per Gesetzesbefehl zum Verlustgeschäft zu machen.

Sieht man davon ab, liegt der von den Sozialpartnern vorgeschlagene «solidarisch» finanzierte Rentenzuschlag nicht allzu fern. Er läuft zwar darauf hinaus, den Teufel mit Beelzebub auszutreiben und die Umverteilung noch zu erhöhen. Das ist in der Logik der zweiten Säule leicht zu kritisieren, aber man könnte auch fragen: Stösst die Logik an Grenzen? Insofern wird wieder aktuell, was bereits 1974 an der Hauptversammlung des damaligen Schweizerischen Verbandes für privatwirtschaftliche Personalvorsorge geäussert wurde: «Gesamtschweizerische Solidarität billigten wir, wenn sie anstrebt, unterschiedliche Altersstrukturen in den Versicherungseinrichtungen auszugleichen.»

Quelle: NZZ

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