Beschönigen die Pensionskassen ihre finanzielle Situation?

Viele Schweizer Pensionskassen reagieren zurzeit auf die ultraniedrigen Zinsen mit Rentenkürzungen. Die Kassen wiesen zu hohe Deckungsgrade aus, kritisieren manche Beobachter.

Wären die Schweizer Vorsorgeeinrichtungen Flugzeuge, so würden einige von ihnen viel niedriger fliegen, als ihr Höhenmesser anzeigt. Mit dieser Metapher hat Pascal Renaud, Vorstandsmitglied der Schweizerischen Kammer der Pensionskassen-Experten, an den Informationstagen zur beruflichen Vorsorge auf die bedenkliche Entwicklung in der beruflichen Vorsorge aufmerksam gemacht. Die Kassen wiesen zu hohe Deckungsgrade und damit eine vermeintlich zu gute finanzielle Situation aus und riskierten damit Fehlentscheidungen, sagte Renaud an der jährlichen Veranstaltung der BVG- und Stiftungsaufsicht des Kantons Zürich (BVS). Der Deckungsgrad errechnet sich aus dem Verhältnis zwischen dem verfügbaren Vermögen und den Vorsorgeverpflichtungen einer Pensionskasse. Gemäss der Oberaufsichtskommission Berufliche Vorsorge (OAK BV) betrug der durchschnittliche Deckungsgrad von Schweizer Vorsorgeeinrichtungen ohne Staatsgarantie 2015 105,1%, bei Pensionskassen mit Staatsgarantie lag er bei 76,1%.

Lücken bei den Renditen

Laut Renaud ist derzeit eine jährliche Anlagerendite von 5% nötig, um den BVG-Umwandlungssatz von 6,8% für die Altersrentner zu finanzieren. Selbst wenn die Rentenreform verabschiedet würde und der BVG-Mindestumwandlungssatz von 6,8% auf 6% sänke, würden die Vorsorgeeinrichtungen noch eine jährliche Anlagerendite von 4% brauchen, um die Neurenten zu finanzieren. Gegenüber der erwarteten Rendite einer durchschnittlichen Anlagestrategie einer Kasse fehlten derzeit Jahr für Jahr bei der Rendite 2 Prozentpunkte, und die aktiven Versicherten müssten zur Finanzierung dieser Lücken eine tiefere Verzinsung ihrer Altersguthaben in Kauf nehmen.

Der Umwandlungssatz ist der Prozentsatz des in der Pensionskasse angesparten Vermögens, der einem Versicherten nach der Pensionierung jährlich ausbezahlt wird. Die ultraniedrigen bis negativen Zinsen zwingen die Vorsorgeeinrichtungen zu massiven Senkungen der technischen Zinssätze. Die Pensionskassen hätten diese nicht stark und nicht schnell genug gesenkt, sagte Renaud, der auch Partner des Pensionskassenexperten-Büros Toptima ist.

Verpflichtungen unterbewertet?

Bei der Berechnung des Deckungsgrads ist der technische Zinssatz sehr wichtig. Mit diesem Satz diskontiert eine Pensionskasse die zukünftigen reglementarischen Leistungen. Verwendet sie einen zu hohen technischen Zinssatz, weist sie zu tiefe Verpflichtungen und einen zu hohen Deckungsgrad aus. So seien die Rentenverpflichtungen vieler Vorsorgeeinrichtungen unterbewertet, sagte Renaud. Er empfiehlt, den technischen Zinssatz prinzipienbasiert anhand einer Zinsstrukturkurve entsprechend den Verpflichtungen festzulegen, anstatt ihn jedes Jahr durch den Stiftungsrat zu beschliessen. Das Ausweisen eines zu hohen Deckungsgrades sei problematisch, denn dies könne beispielsweise dazu führen, dass die Verantwortlichen von Vorsorgeeinrichtungen die Lage ihrer Kasse zu rosig einschätzten, sagte Renaud. Folgen davon könnten Investitionen in zu riskante Anlagen oder zu grosszügige Leistungen für aktive Versicherte und Rentner sein.

«Eingeschlagener Weg stimmt»

Laut Beobachtern fühlen sich derzeit die Stiftungsräte in einigen Pensionskassen zum Handeln gezwungen und senken die technischen Zinsen deutlich. Für grosses Aufsehen haben in diesem Zusammenhang die BVK und die Pensionskasse der Credit Suisse gesorgt, die die Leistungen ihrer Versicherten deutlich gekürzt haben. Laut Roger Tischhauser, Direktor der BVS, haben viele Vorsorgeeinrichtungen aus dem Kanton Zürich die Umwandlungssätze und technischen Zinsen reduziert, um künftige Pensionierungsverluste und die Verteilung der Lasten auf die aktiven Versicherten zu reduzieren. Er betont, der von den Pensionskassen im Kanton Zürich eingeschlagene Weg stimme, es brauche aber weitere mutige Entscheidungen. Ob die Anpassungen ausreichen, müsse für jede einzelne Kasse beurteilt werden. Falls notwendig, greife die BVS ein, der Risikodialog zwischen Vorsorgeeinrichtung und Aufsicht sei jedoch in den meisten Fällen zielführend. Aus Sicht von Tischhauser haben die Pensionskassen auch ihre Wertschwankungsreserven so weit gestärkt, dass sie auf Verwerfungen am Kapitalmarkt reagieren könnten. Die BVG- und Stiftungsaufsicht Zürich kontrolliert nach eigenen Angaben 820 Vorsorgeeinrichtungen mit verwalteten Vermögen von rund 300 Mrd. Fr.

Sammelstiftungen im Fokus

Eine Herausforderung sieht Tischhauser unterdessen in der Entwicklung zu mehr rentnerlastigen Vorsorgeeinrichtungen oder sogar reinen Rentnerkassen. Der Anteil der Rentner am Gesamtvorsorgevermögen steige stetig, auf weniger Aktive kämen immer mehr Rentner. Dieser Trend werde sich in den kommenden Jahren noch verschärfen. Da die Möglichkeit einer strukturellen Sanierung dieser Vorsorgeeinrichtungen eingeschränkt sei, müsse eine ausreichende Finanzierung sichergestellt sein. Die Arbeitgeber seien in der Pflicht. Die BVS überwache dies und greife bei Fehlentwicklungen ein.

Als weiteren Schwerpunkt der Aufsichtstätigkeit nennt Tischhauser die Überwachung der Sammelstiftungen. Solchen Einrichtungen schliessen sich oft Firmen an, die zu klein sind, um eine eigene Pensionskasse zu betreiben. Im Aufsichtsgebiet der BVS sind über 70% der Versicherten Sammelstiftungen angeschlossen. Im Markt der Sammeleinrichtungen herrsche ein harter Wettbewerb, einige dieser Einrichtungen seien deshalb zurückhaltend mit der Senkung von Umwandlungssätzen und technischen Zinsen, sagt Tischhauser. Es sei wichtig, dass die Sammelstiftungen risikoorientiert geführt und beaufsichtigt würden, sonst könnten sie sich zu einem Systemrisiko entwickeln.

Quelle: NZZ
31.01.2017