Erbrechtsrevision: Eine ungelöste Frage

Das schon etwas über hundert Jahre alte Erbrecht steht in Revision. Diese beseitigt Überholtes, schafft aber auch Neues. Ausgangspunkt der Revision sind die soziodemografisch veränderte Umwelt (Lebenserwartung, Scheidungshäufigkeit, Zweit- und Drittbeziehungen, Patchworkfamilien – oder schöner formuliert: Rekombinationsfamilien) sowie das 1912 noch nicht bestehende staatliche Sozialversicherungssystem von der AHV bis zur beruflichen Vorsorge.

Der wohl wichtigste Teil der Gesetzesrevision betrifft das Pflichtteilsrecht. Der Elternpflichtteil, selbst bei unverheirateten, kinderlosen Erblassern, ist längst überholt. Aber auch die hohen Pflichtteilsquoten des überlebenden Ehegatten und der Nachkommen entsprechen nicht mehr den heutigen Bedürfnissen.

Der Vorschlag des Bundesrates, den Pflichtteil der Nachkommen von 3/4 auf 1/2 und denjenigen des überlebenden Ehegatten bzw. des eingetragenen Partners von 1/2 auf 1/4 zu reduzieren, ist sicher vertretbar – das bedeutet aber auch mehr Gestaltungsfreiheit gegenüber faktischen Lebenspartnern, Stiefkindern oder unternehmerischen Interessen. Manchem Erblasser ist unter Umständen der faktische Lebenspartner näher als die Verwandtschaft.

Der Gesetzesentwurf sieht aber davon ab, dem unverheirateten Lebenspartner einen gesetzlichen Anspruch zu gewähren. Das hat durchaus seinen Sinn. Die Definition des faktischen Lebenspartners fällt aber nicht ganz leicht. Vielleicht haben sich die betroffenen Personen auch bewusst gegen eine rechtliche Normierung ihrer Beziehung entschieden. Wenn umgekehrt von bestimmter Seite die Einführung eines gesetzlichen Erbrechtes oder des Pflichtteils entsprechend der Regelung für Ehegatten gefordert wird, weil die faktische Lebensgemeinschaft heute in vielen Fällen die Funktion der Ehe übernommen habe, wird bloss deutlich, wie unterschiedlich die Positionen eben sein können. Für die einen Paare wäre die gesetzliche Regelung erwünscht, die andern wollen diese genau nicht. Der vorliegende Entwurf schafft aber immerhin dem Erblasser mehr Gestaltungsfreiheit und damit die Möglichkeit, dem Einzelfall Rechnung zu tragen. Genau die gleiche Überlegung gilt auch bei Stiefkindern, die unter Umständen einem Erblasser sehr nahestehen können.

Kreativ ist die Einführung des sogenannten Unterhaltsvermächtnisses. Es kommt oft vor, dass ein Partner die Erwerbs- und die persönliche Gestaltungsfreiheit reduziert, um gemeinsame Kinder oder einen pflegebedürftigen Erblasser zu pflegen. Diese verbreitete und sehr altruistische Tätigkeit lässt sich gesetzgeberisch nicht leicht fassen. Dennoch sind Härtefälle zahlreich. Der Entwurf sieht für solche Fälle einen vor Gericht geltend zu machenden und richterlich festzulegenden Vermächtnisanspruch vor. Gerichtlich vorzugehen, bedeutet eine Hürde.

Sicher besteht für den richterlichen Entscheid auch eine sehr grosse Bandbreite, und Streitigkeiten zwischen Erben und dem Anspruchsberechtigten für ein Unterhaltsvermächtnis werden folgen. Dennoch ist das neue Institut zu begrüssen. Der Entscheid des Bundesrates, auf eine gesetzliche Umschreibung dieser Regelung zu verzichten und auf Richterrecht zu verweisen, ist wohl richtig. Richterrecht ist oft kreativer.

Eine nach wie vor ungelöste Frage ist der Zusammenhang von beruflicher Vorsorge und Erbrecht. Der Entwurf will die gebundene Vorsorge vollkommen beim Vorsorgerecht belassen und vom Erbrecht ausschliessen. Das führt zu stossendsten Ergebnissen.

Der «Klassiker» sieht etwa wie folgt aus: Nach 15 Jahren wird eine Ehe in gehobenen mittelständischen Verhältnissen geschieden. Die Eheleute haben kaum freies Vermögen, das Alterskapital in der beruflichen Vorsorge aber beträgt 700 000 Franken. In der Scheidung wird das Alterskapital geteilt. Der Ehemann verheiratet sich nochmals und hat angesichts seines nach wie vor guten Einkommens in der Pensionskasse einen stattlichen Verlust erlitten. Diesen verbessert er gerne durch freiwillige Einlagen, einkommenssteuerfrei jedes Jahr um einen fünfstelligen Betrag.

So gelangt er wieder zu Vermögen, wenn auch anwartschaftlich. Auf die Pensionierung hin wählt er Rente. In seinem Nachlass befindet sich aber kaum freies Vermögen, dafür hat er einen stattlichen Pensionsanspruch. Die Nachkommen aus erster Ehe sind bereits volljährig. Damit haben diese keinen Anspruch mehr. Die Pensionskassengelder kommen voll der zweiten Ehefrau zugute. Anders gesagt: Durch den Einkauf in die Pensionskasse wird der einbezahlte Betrag den Nachkommen völlig entzogen. Legal hat er damit das Erbrecht der Nachkommen aus erster Ehe umgangen. Dieser Missbrauch ist gang und gäbe. Der Gesetzgeber sollte nicht darüber hinwegsehen.

Es wäre sehr wünschenswert, wenn in der Erbrechtsrevision auch das Verhältnis zum Vorsorgerecht nochmals überlegt werden würde. Ausgeklammert ist das Erbschaftssteuerrecht. Das ist nach der Volksabstimmung vom vergangenen Jahr sicher richtig. Dennoch ist einzuräumen, dass die Revision des Erbrechts klar Vorteile und Verbesserungen bringt.

Quelle: NZZ
07.05.2016